Von Menschen, Maschinen und Beziehungen

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Portrait, Stefan Sigrist

Portrait, Stefan Sigrist

Von Menschen, Maschinen und Beziehungen Ein Gespräch mit dem Gründer des Think Tank W.I.R.E. Stephan Sigrist

Technologie, die uns vieles erleichtert, und Chatbots, die uns weiterhelfen – unser Alltag wird immer digitaler, immer vernetzter. Viele Situationen, in denen wir uns bis anhin mit anderen Menschen ausgetauscht haben, erfordern den persönlichen Kontakt nicht mehr zwingend. Übernehmen Maschinen in Zukunft alle zwischenmenschlichen Interaktionen? Und werden wir bald nur noch in digitalen Welten unterwegs sein, unser Vertrauen voll und ganz der Technologie schenken? Diesen Fragestellungen wollen wir auf den Grund gehen und mit dem Gründer des Think Tank W.I.R.E. Stephan Sigrist den Blick ins Unbekannte wagen.

  • Wir treffen Stephan Sigrist an einem besonderen Ort. Der Gründer des Think Tank W.I.R.E. in Zürich setzt sich mit der Entwicklung und den Folgen der Digitalisierung auseinander. Obschon sich der interdisziplinäre Stratege mit der Zukunft beschäftigt, ist viel Vergangenheit im Raum präsent. Schallplatten in der Ecke, Designmöbel und Lampen aus vergangenen Jahrzehnten dominieren die Einrichtung, an seinem Handgelenk zeigt eine Retrouhr die Zeit an. In diesem Ambiente der Nostalgie wagen wir den gemeinsamen Blick in die Zukunft.

Das Beste aus zwei Welten

Wie steht es nun um die angeblich immer weiter in den Hintergrund rückende Mensch-zu-Mensch-Beziehung? «Die Digitalisierung erlaubt das Wiederholen des Immergleichen – der Mensch hingegen erlaubt das Unerwartete, das Erlebnis», erklärt Sigrist und verdeutlicht damit, dass Maschinen und Menschen beide ihre Daseinsberechtigung haben. Beide werden in Zukunft parallel existieren und sich ergänzen. «Was Menschen untereinander suchen und finden, ist Empathie, das Interpretieren von Gesichtsausdrücken, Selbstbestätigung – das Emotionale. All das wird eine Maschine niemals ersetzen können.» Eine Maschine hingegen habe ihre klaren Vorteile, wenn eine einfache Dienstleistung schnell und zuverlässig erbracht werden müsse, fügt der Forscher an und nennt das Beispiel eines Geldautomaten: Karte rein, Code eingeben, Bargeld raus, Dienstleistung erbracht.

Der Mensch erlaubt das Unerwartete, das Erlebnis.

Stephan Sigrist

Laut Sigrist ist es die Verarbeitung einfacher Prozesse, die die Maschinen vom Menschen unterscheiden, weil sie darin effizient sind. Ist es jedoch nicht so, dass wir künstliche Intelligenz oft als sehr kompliziert wahrnehmen? Dass sie uns sogar abschreckt? Das Problem sei, dass Unternehmen und Entwickler sich mit Robotern und Science-Fiction-artigen Systemen übertrumpfen wollen, die mehr zu können versprechen als dies tatsächlich der Fall ist. Wenn beispielsweise suggeriert wird, dass ein Roboter virtuos selbstständig Geige spielt, obschon er einfach ein eingespieltes Programm abruft, schürt dies eher Ängste, als dass es hilft, Vertrauen zu neuen Technologien aufzubauen. Sigrist plädiert für einen vermehrten Low-Tech-Ansatz: «Es wird viel zu viel versprochen, das nicht verstanden wird. Damit verhindert man, was die Menschen eigentlich möchten – eine einfache, funktionierende Lösung.» Wir wünschen uns eigentlich nur einen intelligenten Toaster, stattdessen erhielten wir einen angsteinflössenden Terminator, macht Sigrist bildhaft klar und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Digitale Lösungen werden nur dann zu einer Innovation, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind: «Stiftet eine neue Lösung einen Nutzen für Kunden oder die Gesellschaft? Ist das Versprechen technisch überhaupt umsetzbar? Und drittens: Ist sie bezahlbar?»

Je einfacher, desto besser

Maschinen sollen also simpel und lösungsorientiert sein. Macht sie das kalkulierend und emotionslos? Wahrscheinlich ja. Dies zeigt sich in Situationen, in denen künstliche Intelligenz eingesetzt wird, obwohl ein menschlicher Kontakt angebrachter wäre. Sigrist nennt als Beispiel digitale Welcome-Desks in Hotels, die Gäste mit simulierten Emotionen begrüssen, obwohl ein freundliches Lächeln eines Empfangsmitarbeitenden viel angenehmer wäre. Die Existenz zweier Systeme – Mensch und Maschine – zeigt sich in vielen Facetten. So sollen unter Umständen simple Prozesse weiterhin von Menschen übernommen werden, damit sie eine emotionale Note und somit ein positives Erlebnis vermitteln. Auch hier sehen wir: Der Mensch als Gegenüber ist uns nach wie vor wichtig.

Imitierte Emotionen können helfen, das Vertrauen zwischen Mensch und Maschine zu stärken.

Stephan Sigrist

Maschinen entwickeln sich, werden besser und intelligenter. Wenn Maschinen die Emotionen von Menschen simulieren könnten, wäre es dann möglich, dass der Welcome-Desk doch irgendwann die Hotelrezeption und den Concierge ersetzt? Stephan Sigrist relativiert erstmal unsere Vorstellung, dass sich die Digitalisierung rasant entwickle: «Maschinen werden momentan in erster Linie schneller, nicht unbedingt gescheiter.» Es gebe aber durchaus digitale Systeme, die aus menschlichem Verhalten lernen. Das Erlernen und Imitieren von Emotionen kann in bestimmten Situationen helfen, das Vertrauen zwischen Mensch und Maschine zu stärken. Dies bedeutet aber nicht, dass ein generalistischer Ersatz sinnvoll oder wünschenswert ist.

Vertrauen zwischen vier Wänden

Vertrauen als Grundlage für die Mensch-Maschinen-Interaktion. Das überrascht wenig, denn eine gesunde zwischenmenschliche Beziehung basiert ebenfalls auf Vertrauen. Wir finden in anderen Menschen Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und suchen den Dialog, um komplexe Probleme zu lösen. Manchmal wollen wir auch nur ein unbeschwertes, nettes Gespräch führen. Wir müssen nicht immer den Durchblick in allen Dingen haben. Wir holen uns Informationen, die wir selbst nicht haben, von anderen. Das ist Vertrauen. Oder wie es Sigrist treffend nennt: «Transparenz ist das Gegenteil von Vertrauen.»

Und was hat das alles mit der Schweizerischen Post zu tun?

Interessant ist die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine mit Blick auf die Filialen. In ihnen sind über Jahre persönliche Beziehungen zwischen unseren Mitarbeitenden und den Kunden entstanden. Spielen physische Standorte oder der Ort generell eine Rolle? Sigrist macht diesbezüglich eine interessante Feststellung: «Gebäude werden in der Digitalisierung wieder wichtig. Sie dienen als Identifikationspunkt – nicht mehr in Form von grossflächigen Büros oder kalten Schalterhallen, sondern als Orte der Begegnung. Als Orte, an denen der persönliche Austausch stattfindet. Filialen von Unternehmen sind die perfekte Schnittstelle zwischen digitaler und physischer Welt.» Gerade Dienstleister, die im Prinzip kaum eine menschliche Interaktion mehr nötig haben, suchen deshalb wieder vermehrt den direkten Kontakt mit den Kunden, indem sie Präsenz an lukrativen Standorten markieren. Das Erlebnis mit künstlicher Intelligenz, der Aufbau von Vertrauen, Emotionen mit Menschen – und vieles darüber hinaus – findet heutzutage hochkonzentriert an ein und demselben Ort statt. Wer also das viel beschriebene duale System von Mensch und Maschine hautnah erleben möchte, findet dies nicht wie oft prophezeit in virtuellen Realitäten, sondern in der realen Welt.

Info zur Person

Dr. Stephan Sigrist ist Gründer und Leiter des Think Tank W.I.R.E in Zürich. Seine Hauptbeschäftigung gilt der Analyse der Digitalisierung. Nach seinem Biochemie-Studium an der ETH Zürich war er unter anderem als Unternehmensberater bei Roland Berger Strategy Consultants und am Gottlieb Duttweiler Institute tätig. Er ist Herausgeber der Buchreihe ABSTRAKT und Autor zahlreicher Publikationen.